Der Mensch muss arbeiten. Sei es körperlich oder geistig. Manchmal auch beides. Er muss und will arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Und um den Grundbedürfnissen "wohnen, essen und kleiden" nachzukommen, habe auch ich notwendige Gartenarbeiten gemacht. Nicht unbedingt, um dort ein Gartenhäuschen zu bauen oder Salate oder Gemüse zu ernten. Nein, ich habe eigentlich aus Freude gearbeitet. Bewegung ist ja auch sehr gut. Sagt man. Der Punkt Freude hätte eigentlich in der Rubrik Grundbedürfnisse ergänzt werden müssen. Ist aber offiziell nicht. Und mein Garten war einfach fällig.
Mühsam habe ich Unkraut gejätet, Baumäste gestutzt, Heckenschnitt durchgeführt, Findlinge verlagert, Gartenmöbel umgesetzt,...und dann ist es passiert. Mein Fuß! Geknickt. Gebrochen? Schwellung! Naja, wird schon wieder werden, dachte ich. Wurde aber nicht.
Mich telefonisch beim Arzt angemeldet. Natürlich Facharzt für Knochen. Nein, schnellen Termin kriegt man nicht. Könnte ja jeder kommen. Notfall? Naja, machen mal 'ne Ausnahme. Kommen und warten.
Sitze im Wartezimmer. Voll! Jung und alt, groß und klein. Scheint auch nicht leerer zu werden. Links neben mir sitzt Herr "Wackelmann", weil er ständig mit seinem Fuß wippt. Rechts sitzt von mir Frau "Blumenkleid", denn sie hat ein farbenprächtiges Kleid an, das nur so vor Leuchtkraft glänzt.
Ich schaue mich weiter um. Tolle Bilder an der Wand. Eigene Fotos? Mensch, der Arzt muss ja weit gereist sein bei diesen Motiven! Und auch einige Handzeichnungen. Talentiert! Etwa auch vom Arzt? Aus Langeweile? Als Ausgleich? Oder einfach nur als Hobby? Und schon geht mein Blick weiter durch das Wartezimmer.
Es geht weiter. Der junge Mann von Stuhl neun wird aufgerufen. Sieht ja ganz pfiffig und modebewußt aus. Warum humpelt er nur? Naja, wird schon seinen Grund haben.
Neuzugang auf Stuhl Nummer neun. Wieder männlich, aber nicht modisch gekleidet. Ist ja auch schon älter. Und was macht er? Greift schnell und entschlossen zum Automagazin-Heft. Wollte ihm doch keiner wegnehmen, oder?
Stuhl Nummer vier liest Brigitte-Zeitung. Klar, ist 'ne Frau. Welche Rubrik liest sie? Lege mich mal ein bisschen nach vorne und will genauer hinsehen. Und was macht Stuhl Nummer vier? Dreht sich weg von mir und guckt in die andere Richtung.
Von den jüngeren Teilnehmern ist die rothaarige besonders unruhig. Der Stuhl scheint wohl nicht ihrer schlanken Figurgröße angepaßt zu sein. Sie greift zum Smartphone. Knallrot. Mit ihren Fingern werkelt sie darauf rum, als wäre es ein Klavier in Miniaturausgabe. Möchte ich auch können. Stattdessen rutsche ich immer mit meinen Fingern auf so einem Ding hin und her und treffe regelmäßig die falschen Buchstaben. Meine Empfänger haben wiederholt zurückgerufen, um zu erfahren, was ich denn eigentlich mitteilen wollte. Ich sollte besser davon Abstand nehmen. Aber man muss ja mit der Zeit gehen, und so bleibe ich trotzdem dabei.
Das kleine Mädchen läuft durch den Warteraum. Spricht mit seiner Mutter und will wissen, ob sie das Spielzeug im Zimmer benutzen darf.
Braves Mädchen. Andere hätten erst gar nicht gefragt und es sofort zerstört. Nein, es spielt tatsächlich richtig damit und bringt alle Klötze in die richtige Lage. Seine Mutter sieht aber schmerzverzerrt aus. Hat wohl doch größere Probleme. Und schon wird sie aufgerufen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Die übrigen Patienten sitzen jetzt ruhig da, gucken aber vorwiegend griesgrämig und auch gelangweilt durch den Raum. Kaum jemand verzieht eine Miene. Wer guckt denn ängstlich? Die alte, grauhaarige Dame auf Stuhl Nummer fünf. Sie liest keine Zeitung und nutzt auch keine anderen Gegenstände gegen Langeweile. Sie beobachtet... mich. Habe ich was falsch gemacht? Ich lächele sie an und sie lächelt auch zurück. Na, das war doch mal eine positive Kontaktaufnahme. Werde ich mal bei anderen auch probieren.
Ich warte weiter. Neuer Patient. Welche Zeitung wird er denn nehmen? Ich denke, wieder eine Zeitung für Männer. Er sucht. Nix dabei? Er schaut sich um. Wer hat denn seine Zeitung? Ob er vielleicht eine Computerzeitung sucht? Die habe ich nämlich auch vermißt und habe deswegen demonstrativ auf eine Zeitung verzichtet. Er nimmt den Stern. Aber er liest nicht. Aha, war für seine Frau, die erst jetzt den Raum betritt. Alle Frauen haben ihre Taschen zwischen den Füßen stehen. Sobald ein Stuhl frei wird, wandert eine Tasche nach oben, um wenig später bei Neubesetzung dann wieder auf den Boden abgesetzt zu werden. Taschenwanderung nennt man sowas.
Eine Ausnahme allerdings gibt es. Der Herr "Kraftprotz", der seine Frau begleitet, muss auf die Tasche seiner Frau aufpassen, während sie ins Praxiszimmer gerufen wird. Was macht er? Er setzt sich einfach auf die Tasche seiner Frau. Weiß er überhaupt, welche wertvollen Schätze in der Handtasche seiner Frau vorhanden sind. Welche Frau läßt sowas zu? Ich möchte nicht erleben, wie das ausgeht!
Vor lauter Warten vergesse ich meine eigenen Beschwerden. Habe auch gar keine Schmerzen mehr an meinem Zahn, der erst vor Tagen eine Wurzelbehandlung erfahren hat. Aber hier bin ich nicht beim Zahnarzt, sondern beim Orthopäden, ...mußte ich mir erneut ins Gedächtnis rufen.
Ich warte noch immer auf meinen Aufruf. Patienten kommen und gehen, gehen und kommen. Naja, bin ja auch ein Notfall, der eben viel Zeit mitbringen sollte. Aber jetzt ist schon längere Zeit kein Patient mehr aufgerufen worden. Ob dem Arzt vielleicht was passiert ist?
Gelangweilt schaue ich auf meine Uhr. Volle Stunde. Sitze hier erst eine Stunde, aber eine gefühlte Ewigkeit. Und was sagen die Uhren meiner Mitwartenden? Der Herr "Grauhaar" hat keine Uhr, Frau "Armkaputt" trägt ihre Uhr am rechten Handgelenk und zeigt keine volle Stunde an, sondern verspätete 5 Minuten. Der junge Bursche auf Platz sieben trägt seine Uhr am rechten Fleck. Aber sie ist um 3 Minuten vorschnell. Achja, meine Brille könnte ich auch wieder einmal reinigen, um auch alle Feinheiten genau sehen zu können. Und damit ich auch wieder richtig in Farbe gucken kann. Könnte ich ja jetzt mal machen. Dazu müßte ich aber ein Brillentuch haben. Habe ich nicht. Ob wohl irgendjemand eins für mich hätte? Nein, ich frage niemanden. Ist ja nicht üblich.
Ich warte weiter. In meinen Gedanken höre ich Lieder von Hannes Wader und Reinhard May. Am liebsten würde ich mitsingen. Halluzinationen? Bin ich vielleicht beim falschen Arzt? Nachdenklich schaue ich in die Patientenrunde. Nein, ich bin hier wegen meines schmerzhaften Fußes, der aber plötzlich keine Unannehmlichkeiten mehr zeigt. Und ansonsten gehts mir auch gut.
Allmählich lichtet sich das Wartezimmer. Endlich komme ich ins Gespräch mit dem Herrn "Dunkelhaut". Sympathisch. Er erzählt mir unaufgefordert von seiner umständlichen Autofahrt bis hier und erwähnt das unnötige Knöllchen, dass er beim angeblich falschen Parken kassiert hat. Da kann ich mitreden. Grundsätzlich möchte ich ja bei jedem Knöllchen Einspruch erheben wegen Freiheitsberaubung, ungleicher Behandlung und Falschaussagen diverser Knöllchenverteiler. Unterlasse es dann aber auch regelmäßig. Und zahle. Und bevor ich noch weiter darauf eingehen kann, ist er auch schon weg und wird zum Arzt gerufen. War er etwa ein Pharmavertreter? Das werde ich wohl nie erfahren.
Und ich warte weiter. Aber als ich dann wirklich der letzte Patient im Wartezimmer bin, stehe ich einfach auf und verlasse die Praxis. Man hat mich wahrscheinlich ganz vergessen. Ich fahre zu meinem Hausarzt, der mich postwendend behandelt und mich nie vergessen würde. Guter Arzt.
Dani Berretti